30.11.2021
Von Pfund, Lollars und Frischgeld – wie Libanesinnen und Libanesen heute rechnen müssen
Anfang Oktober 2021 bereiste Pfr. Christian Kurzke, den Libanon. Partnern der Ökumene konnten dringend benötigte Spendengelder übergeben werden. Die Situation im Libanon hat sich extrem verschlechtert. Wie sehr, das hat Pfr. Uwe Gräbe, Geschäftsführer des Ev. Vereins für die Schnellerschulen (EVS), der derzeit das Land bereist, zusammengefaßt.
Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, was sich hier so seltsam anfühlt – und was sich in den vergangenen zwei Jahren, in denen ich den Libanon nicht mehr besuchen konnte, selbst in einer kleinen Eckkneipe an der Hamra-Straße in Beirut so massiv verändert hat. Doch, es gibt sie noch, die Bars und Restaurants, in denen sich trotz Pandemie, wirtschaftlichem Zusammenbruch, politischer Implosion und humanitärer Katastrophe eine nennenswerte Zahl an Gästen zum gepflegten Bierchen einfindet – obwohl die gastronomischen Betriebe links und rechts davon längst geschlossen haben mögen. Es sieht aus wie immer, doch anfühlen tut es sich eben ganz anders. Und endlich verstehe ich: Es ist die Stille, die einem hier aufs Gemüt schlägt. Voll besetzte Tische – aber kein lautes Lachen, kein munteres Scherzen, nirgends. Man unterhält sich mit gedämpfter Stimme. Und das in einer Weltgegend, in der es sonst gemeinhin eher turbulent zugeht
Ist es eine Art kollektiver Depression, die sich so ausdrückt? Das Gefühl, dass Lachen in der gegenwärtigen Situation schlicht unanständig wäre? Oder so etwas wie ein schlechtes Gewissen, sich noch etwas leisten zu können, das für die Mehrheit der Bevölkerung unerreichbar geworden ist? Es ist ja nicht so, dass durch die Inflation einfach alles nur teurer geworden wäre. Nein, diese Krise hat noch keine klare Linie, alles scheint unklar, ungewiss, im Fluss. Das betrifft beispielsweise die Wechselkurse ebenso wie die Preise und die Gehälter.
Vor dem Oktober 2019 war es so einfach mit den Wechselkursen: 1.500 Pfund waren immer ein Dollar. Die libanesische Währung fest an die amerikanische gebunden, obwohl es der Wirtschaftsleistung des Libanon schon längst nicht mehr entsprach und nur durch immer neue Staatsschulden finanziert werden konnte. Um das Zahlenwerk etwas überschaubarer zu machen, wurden die alten Bankkonten damals zumeist einfach in Dollar geführt. Heute gibt es diesen „offiziellen“ Wechselkurs theoretisch immer noch: Für einen nominellen Dollar auf dem Bankkonto bekommt man noch immer jene 1.500 Pfund, obwohl man in den Wechselstuben auf dem freien Markt 23.000 Pfund für einen Dollar (26.000 Pfund für einen Euro) bezahlen muss. In sehr begrenztem Maße kann man auch 3.900 Pfund für einen Dollar vom alten Konto bekommen (und es wird gemunkelt, dass gut vernetzte Firmen zuweilen gar 15.000 Dollar bekämen) – „Lollars“ oder „Lebanese Dollars“ nennt sich das Ergebnis solcher Rechenkünste, das sich nur dann erzielen lässt, wenn die jeweiligen Konten nicht gleich ganz eingefroren sind. Aber wer im internationalen Geschäft tätig ist, verfügt zumeist ohnehin längst über so genannte „Frischgeld-Konten“: Devisen, die nach der Zahlungsunfähigkeit des Staates im Frühjahr 2020 aus dem Ausland auf solche Konten überwiesen wurden, gelten als geschützt und können auch vollumfänglich als Dollar oder Euro ausgezahlt werden.
Schaut man auf die Preise, so ist es meistens so, dass sie sich für Libanesinnen und Libanesen, die ein Gehalt in einheimischer Währung beziehen, mehr als verzehnfacht haben, während sie für Devisenbesitzer deutlich billiger geworden sind. Eine typische Restaurantrechnung, die 2019 beispielsweise 45.000 Pfund oder 30 Dollar pro Person betrug, liegt jetzt etwa bei 500.000 (eine halbe Million!) Pfund oder rund 22 Dollar. Manche Restaurants stellen die Rechnung so aus, als gelte noch der alte, offizielle Umrechnungskurs – und schreiben statt der 22 einen Rechnungsbetrag von 330 Dollar neben die 500.000 Pfund. Natürlich zahlt das niemand – aber es hilft, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie teuer ein Restaurantbesuch für die meisten libanesischen Gäste geworden ist. Daneben gibt es in den Supermärkten Importprodukte, bei denen der Dollarpreis tatsächlich gestiegen und deren Wert in Pfund dadurch in astronomische Höhen geschnellt ist. Und drittens gibt es einige ganz wenige Lebensmittel auf den lokalen Märkten, deren Pfund-Preis sich nur moderat erhöht hat – und die in Devisen nun spottbillig geworden sind.
Und schließlich die Gehälter: Viele erhalten immer noch das gleiche Gehalt in Pfund wie vor dem Herbst 2019 oder haben aufgrund der Wirtschaftskrise gar ihren Job verloren. Einige bekommen moderate Zuschläge, andere einen kleinen Teil des Gehalts (zumeist sind es 10%) in „frischen“ Dollars oder ihrem Gegenwert in Pfund laut Wechselkurs des freien Marktes – was geradezu als ein Glücksfall gilt. Am anderen Ende des Spektrums gibt es jene wenigen Glücklichen, die von internationalen Firmen oder Nichtregierungsorganisationen auch weiterhin in Devisen entlohnt werden. Menschen, die in vergleichbaren Berufen und Positionen arbeiten, erhalten so teilweise extrem unterschiedliche Gehälter. Nein, eine eindeutige Linie ist in diesem wirtschaftlichen Chaos noch längst nicht zu erkennen, und wahrscheinlich wird es sich eher auf einem niedrigeren als auf einem höheren Niveau einpendeln.
Letzteres sagt auch ein ranghoher deutscher Diplomat, mit dem ich in diesen Tagen unterwegs bin: Wahrscheinlich werde die wirtschaftliche Lage für die Gesamtbevölkerung noch viel schlimmer werden, da die politischen Entscheidungsträger sich auf ihren kleinen Inseln des Reichtums eingerichtet hätten und noch immer keinen Handlungsdruck verspürten. Einer, der in dieser Zeit unbeirrt für Gerechtigkeit kämpft, ist der Richter Tarak Bitar, der versucht, die Verantwortlichen für die verheerende Explosion im Beiruter Hafen vom 4. August 2020 vor Gericht zu bringen – unabhängig von ihrer politischen und religiösen Zugehörigkeit. Er tut dies trotz aller Drohungen gegen sein Leben und das seiner Familie, auch trotz der Schießereien, die dadurch im vergangenen Oktober ausgelöst wurden, und trotz aller politischen Versuche, ihn kalt zu stellen. „Ein aufrechter Mann“, sagt der deutsche Diplomat. Aber ob er diesen Kampf bis zum Ende wird führen können? Es geistern viele Verschwörungstheorien durch den Libanon, wer davon profitieren könnte, dass die Ermittlungen Bitars dermaßen behindert werden. Am 28. November finden im Libanon Wahlen zu den Berufsvertretungen der Zahnärzte und Apotheker statt. Als Umfragen im Laufe des Wahltages ergeben, dass junge, unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten offenbar einen Erdrutschsieg erzielen – gegen jene Kandidierenden, die von den alten, konfessionell geprägten Parteien ins Rennen geschickt wurden – da kommt es zu massiven Störungen der Wahlabläufe durch die Hizbollah; offenbar verschwinden reihenweise Stimmzettel. Am folgenden Tag sind die Passstraßen über das Libanongebirge wieder einmal von Protestierenden blockiert. Für das Frühjahr 2022 sind allgemeine Wahlen geplant. „Die Kräfte des alten, bankrotten Systems provozieren bewusst immer neue Unruhen, damit der Wahltermin immer weiter verschoben wird“, so erklärt der Diplomat ganz unverblümt.
Die wirtschaftliche Ungleichheit zeigt sich wohl nirgendwo sonst so anschaulich wie am Wiederaufbau nach der Hafenexplosion vom August 2020: Die glitzernden Hochhäuser an der Marina und der Uferstraße westlich des Unglücksortes sind längst mit neuen Glasfassaden ausgestattet; stellenweise wird noch eifrig gewerkelt. In den ärmeren Vierteln östlich und südlich davon sind die Verwüstungen auch weiterhin unübersehbar. Doch zählen in diesem Falle auch die staatlichen Behörden zu den Verlierern: Nur notdürftig wurden die Fensterhöhlen der nationalen Elektrizitätsgesellschaft mit Spanplatten und Betonsteinen gestopft. Selbst in einem historischen Prachtbau wie dem Regierungssitz, dem „Grand Serail“, werden erst jetzt nach und nach Plastikfolien gegen neue Glasfenster ausgewechselt. Nach sechzehn Monaten. Das unübersehbare Symbol der massiven Zerstörung aber ist auch weiterhin jener zerborstene Getreidespeicher am Hafen, der der Explosion am nächsten stand.
Uwe Gräbe, z.Zt. Khirbet Kanafar, Libanon